11.40 Uhr
„Was ist das denn?!“ Ungläubig starrte der Ressortleiter Ausland auf den Bildschirm des jungen Mitarbeiters: „Eine Kurzmeldung über Raketenangriffe aus Gaza auf israelisches Gebiet? Ja, sind Sie denn mit dem Klammerbeutel gepudert?!“ Der Junior-Redakteur wand sich verlegen auf seinem Stuhl. „Wieso denn, Chef? Stand doch in den Agenturmeldungen.“ – „Mein Gott, man merkt wirklich, dass Sie noch viel lernen müssen, Eschenröder. Das da ist keine Meldung. Die Meldung kommt noch!“
15.10 Uhr
Mit einer gewissen Beunruhigung sah Eschenröder seinen Ressortleiter auf sich zusteuern. „So, Herr Praktikant, jetzt gehen wir mal die Agenturmeldungen durch… Und was sehen wir da? Oh, oh: Israelische Luftwaffe greift Stellungen radikalislamischer Kämpfer an. Merken Sie was, Eschenröder?“ – „Klar, die haben zurückgeschlagen.“ – „Ebend! Und das werden Sie jetzt mal hübsch ausformulieren. Viel Spaß dabei.“
15.30 Uhr
Der Wutausbruch des Ressortleiters war noch in der Teeküche zu hören. „Aaaaaargh! Leute, Ihr glaubt nicht, was dieser elende Praktikant hier geschrieben hat: ,Nach wiederholten Raketenangriffen auf ihr Gebiet haben israelische Streitkräfte…’“ Ein kollektives Aufstöhnen erfüllte das Großraumbüro. „Das geht ja mal gar nicht!“, ließ sich der Ressortleiter vernehmen. „Ich glaube, wir müssen hier mal ein paar grundlegende Dinge klären…“
Damit zog er den jungen Kollegen in sein gläsernes Kabäuschen und ließ die Jalousien herunter. „So, Eschenröder, passen Sie mal auf. Ich hatte gesagt: Die Meldung kommt noch. Also, was ist die Meldung?“ – „Dass die Israelis zurückgeschlagen haben.“ – „Neeiiin! Dass die Israelis angegriffen haben, Herrgott noch mal!“ – „Aber, aber…“ – „Nix aber! Israel bombardiert Gazastreifen, das ist die Meldung, Compañero. Also schreiben Sie das auch!“ „Ja, aber das war doch eine Reaktion?“ – „Papperlapapp. Israel bombardiert Gazastreifen, aus die Maus. Gab es Tote?“ – „Nein, nach palästinensischen Angaben vier Verletzte, also: Terroristen.“ – „Terroristen?? Jemand zu Hause bei Ihnen, Eschenröder? Terroristen, ich glaub‘, es hackt! Aktivisten vielleicht. Militante. Kämpfer, aber das ist Maximum.“ „Ja, aber wird die Hamas nicht von den USA und der EU als terroristische Organisation gelistet?“ – „Schon, aber doch nicht bei den Medien, Sie Vollpfosten! Des einen Terrorist ist des anderen Widerstandskämpfer, weiß man doch. Wir dürfen da keine Position beziehen, denken Sie daran: Ein guter Journalist macht sich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten!“ – „Also bleiben wir neutral?“ – „Schauen Sie, Eschenröder: Da sind ein paar maskierte junge Kerle mit Testosteronüberschuss, die eine selbst gebastelte Rakete aufs Geratewohl abschießen. Die landet irgendwo auf einem Kibbuzacker. So. Und dann kommt die israelische Luftwaffe mit Hightech-Gerät und feuert richtige Geschosse ab. Was ist die Meldung?“ – „Hm. Die Vergeltungsaktion?“ – „Ich sehe, so langsam fällt der Groschen bei Ihnen. Hier,“, er griff in seine Schublade, „nehmen Sie das hier mal mit, da steht alles drin, was Sie wissen müssen. Das ist die Bibel der Nahostberichterstatter. Und jetzt: husch husch, an die Arbeit!“
16.05 Uhr
„Chef?“ Eschenröder steckte seinen Kopf durch den Türspalt. „Attentat auf eine Siedlerfamilie, vier Tote. Was soll ich schreiben?“ – „Na, dann warten wir doch erstmal ab, was die Israelis unternehmen.“ – „Und, äh: dass da ein Attentat war, ist jetzt keine Meldung?“ – „Mensch, üben Sie sich doch mal in Geduld! Wenn dieser Netandingenskirchen meint, er müsse Vergeltung ankündigen, dann packen wir das in die Schlagzeile, und im Text können Sie den Anschlag ja dann immer noch erwähnen.“ – „Ja, aber…“ Eschenröder druckste herum. „Vertauschen wir damit nicht Ursache und Wirkung?“
Der Ressortleiter seufzte. „Haben Sie jetzt mal in das Handout gekuckt oder nicht? Wann haben Sie zum letzten Mal die Schlagzeile: ,Palästinenser erschießt Israelis´ gelesen? Oder ,Palästinensischer Terrorist verübt Attentat – 12 Tote´? Haben sie eine solche Überschrift überhaupt schon einmal gelesen? Sehen Sie. Und jetzt raus hier. Sie setzen sich erst wieder an den Rechner, wenn Sie den Leitfaden studiert haben.“
16.40 Uhr
„Israel bombardiert Stellungen im Gazastreifen.“ Der Ressortleiter schüttelte den Kopf. „Viel zu detailliert. Was soll denn der Leser damit anfangen?“ – „Nun ja, die Luftwaffe hat dahin gefeuert, von wo die Raketen abgeschossen wurden.“ – „Handout nicht zu Ende gelesen, was, Eschenröder? Wo lagen denn die ,Stellungen’, hm?“ –„Im Gazastreifen natürlich.“ – „Bingo! Na, dann schreiben Sie das auch: Israel bombardiert Gazastreifen! Und wenn das schon seit Wochen nicht vorgekommen ist, dann schreiben Sie, dass es die schwersten Angriffe seit Wochen waren. That’s the way we do it, Genosse.“
16.50 Uhr
„Ich weiß nicht.“ An dem jungen Redakteur nagte das schlechte Gewissen. „Irgendwie wird die Meldung den Geschehnissen doch nicht gerecht.“ – „Aah, was hier jahrzehntelange Praxis in allen Redaktionen ist, möchte unser Jungspund natürlich ratzfatz ändern! Wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen, Eschenröder? Shlomo?“ Der Ressortleiter lachte dröhnend. „Shlomos! So hat Michael Lüders immer Leute genannt, die zionistische Schlagseite hatten…“
„Würde ich gar nicht sagen, Chef, aber ich hab zum Beispiel neulich irgendwo gelesen, dass die Fatah da so einen Kongress veranstaltet hat, auf dem sie sich sehr unversöhnlich zeigte, und…“ – „Also, bei uns haben Sie so etwas ganz sicher nicht gelesen, Eschenröder! Und auch in keiner anderen deutschen Publikation. Wen interessiert denn so was? Und wen interessiert, ob die Hamas zwei Jahre nach dem Gazakrieg einräumt, dass mindestens zwei Drittel der Opfer Kämpfer waren? Wir haben zwei Jahre lang geschrieben: 1400 Tote, die meisten davon Zivilisten. Und jetzt sollen wir einräumen, dass das alles Bullshit war? Sie haben wohl ein Ei am Wandern! Bringen Sie mir noch mal das Handout, Sie Clown. Schnell weg sein, schnell wieder hier sein.“
Zwei Minuten später:
„So, verehrter Kollege: Ihr Ausflug ins Ressort ist beendet, hab’ schon mit dem Chefchef gesprochen. Es ist für alle besser, wenn Sie neue Herausforderungen auf anderen Gebieten suchen. Lokales, hat noch nie jemandem geschadet. Hier: Der Bürgermeister hat eine Adele Bramsig an ihrem 100. Geburtstag persönlich besucht, ihr einen Blumenstrauß überreicht und einen netten Plausch mit der rüstigen Jubilarin gehalten. Da machen Sie mal was Schönes draus! Und, Eschenröder…“
“Ja?“ Der junge Mann drehte sich an der Tür noch einmal um.
„Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf: Mischen Sie sich nicht in Dinge ein, von denen Sie was verstehen.“