Über den Golan schreiben viele Leute, die ihn noch nie gesehen haben.
Und sie haben auch gleich feste Ansichten zur Hand. Dass „die Besetzung
durch Israel“ völkerrechtswidrig sei, zum Beispiel, und dass der Höhenzug
unbedingt „an Syrien zurückgegeben“ werden muss, damit Friede werde
im Nahen Osten. Vermutlich schlachtet der Diktator in Damaskus gerade
sein Volk ab, weil er sich über den Verlust der Golan-Höhen wahnsinnig
gegrämt hat? (Allerdings war er erst zwei Jahre alt, als die ruhmreiche
syrische Armee die Beschießung israelischer Dörfer vom Golan aus unfreiwillig einstellen musste.)
Unser Gastautor Kai Seyffarth fährt und wandert seit 21 Jahren regelmäßig
über den Golan; es hat ihn eine tiefe Liebe zu dieser Landschaft ergriffen.
Angeregt von der politischen Parole der Golan-Bewohner und ihrer
Unterstützer in Israel – HaAm im HaGolan, Das Volk ist mit dem Golan –
entwickelte er vor langer Zeit seine eigene griffige Formel: Sh’lom im
HaGolan.
Frieden für den Golan
Kai Seyffarth, 26. Mai 2012

Yael hat ein köstliches Frühstück gezaubert an diesem frühen Samstag morgen. Auf meine Nachfrage erklärt sie die Bilder an der Wand: Wie sie 1963 zum Militärdienst hierher an die syrische Grenze kam. Wie nach der Gründung des Moshav primitive Blockhütten gebaut wurden, mitten in die Einöde. Wie drei junge Frauen in kurzen Hosen die ersten Bäume pflanzten.
Yael ist die Herbergsmutter des Gästehauses „Sea of Galilee“ im Moshav Almagor oberhalb des Kinnereth. Von ihrem Garten aus bietet sich ein überwältigender Blick auf den See; links liegen die steilen Hänge des südlichen Golan. Es ist der zweite Morgen meiner Reise, und ich freue mich auf einen Tag, der mir allein gehört.
Mein erstes Ziel ist die Festung Nimrod ganz im Nordosten. Nachdem ich den Jordan überquert habe, biege ich auf die Straße 888 ab, eine meiner Lieblingsstrecken. Das Dorf Had Nes bleibt am Wege liegen mit seiner Weinkellerei, die heute leider geschlossen ist.
Dann kommen lange nur Einsamkeit und Weite. Ein einzelner Traktor zieht seine Bahn über die Felder. Apfelplantagen und Weinberge wechseln sich ab. Kühe liegen im Schatten großer Eukalyptusbäume. Erstaunlich viele Pferde gibt es neuerdings. Ein Weißstorch landet neben der Straße. Radrennfahrer in ihren leuchtenden Trikots kommen mir entgegen. Die sind hart im Nehmen, denke ich, bei dieser Hitze!
Heute ist mir nicht nach Politik zumute – ich beschließe, nicht am Tal der Tränen vorbeizufahren, wo Avigdor Kahalani mit seinem Bataillon im Oktober 1973 die syrische Panzerarmee zum Stehen brachte. Aber die Geschichte läßt sich nicht verdrängen, wenn man auf dem Golan unterwegs ist. Gelegentlich sehe ich Ruinen syrischer Militärposten. Hartnäckig hält sich die linke Legende, wonach die Israelis im Sechstagekrieg 100,000, ja sogar 200,000 Einwohner vom Golan vertrieben hätten. Selbst nach syrischen Angaben lag die Bevölkerungszahl weit unter 100,000. Die Mehrzahl von ihnen waren dort stationierte Soldaten, wie man an der häßlichen Beton-Kasernen-Architektur unschwer erkennen kann – die Bauten der ursprünglichen Bewohner bestanden aus groben schwarzen Basaltsteinen. Und außerdem gehörte zu der Gesamtzahl auch die Einwohnerschaft der Stadt Kuneitra, die nach dem Waffenstillstandsvertrag auf syrischer Seite liegt, aus Propagandagründen jedoch bis heute eine Ruinenstadt geblieben ist.

Am Fuße des Avital mache ich eine Pause. Der schneebedeckte Hermon ist von hier gut zu sehen. Zu meinen Füßen breitet sich sanft die Hochebene aus. Irgendwo da vorn ist schon Syrien. Es sieht ruhig aus, nichts deutet darauf hin, daß ein blutiger Schlächter gerade wieder einmal dabei ist, die undankbare Bevölkerung seines Landes zu dezimieren. Aber so war es schon immer: Wer Augen und Ohren verschloß, fuhr als Tourist nach Syrien und kam begeistert zurück. Folterkeller und Todeszellen gehören nicht zum Programm von Biblisch-Reisen. Ahmed, der Studienfreund meines Vaters, verschwand in den 80er Jahren spurlos. Und auf welcher Seite mag Nabil heute stehen, mit dem ich das Zimmer im Studentenwohnheim teilte?
Ich nähere mich Mas’ada und erkenne den Ort kaum wieder. Die Hauptstraße wurde zum Boulevard mit vielen neuen Häusern, Geschäften und Cafes. Autos parken davor in zwei Reihen. Ein Pferd steht ungerührt auf der Straße und frißt die Blumen vom Mittelstreifen. Bei der Ausfahrt grüßt ein großes Schild in drei Sprachen „Go in Peace“.
Die Landschaft wird belebter; Kinder spielen am Straßenrand, drusische Familien ziehen zur Ernte in ihre Kirschplantagen. Ich halte an und kaufe zwei Schalen Süßkirschen für Yael.
Es wollte mir nie in den Kopf, daß die linken Aktivisten glaubten, Frieden im Nahen Osten sei möglich und wahrscheinlich, sobald nur der Golan an die syrische Soldateska ausgeliefert sei. Was wäre das für ein Frieden, für den man Tausende Bauernfamilien entwurzelt? Denn von den 40,000 Bewohnern des Golan (etwa zu gleicher Zahl Drusen und Juden) – Menschen, die in Freiheit aufgewachsen sind! – wollte und könnte niemand mehr dort wohnen und seine Felder bestellen, wenn die syrische Armee und Geheimpolizei einrückte. Das war vor zwanzig oder dreißig Jahren unter dem Mörder Assad senior nicht anders als heute, nur wollte es damals außerhalb Israels niemand wissen. Im Herbst 1993, als die Welt euphorisiert war über die Verträge von Oslo, hingen überall in Israel Bettlaken aus den Fenstern: „HaAm im HaGolan“ – Das Volk ist mit dem Golan. Auf einem kahlen Hügel trafen wir eine Gruppe junger Leute mit ihren Wohncontainern, verrückte Zeloten. Avigdor Kahalani gründete die Partei „Dritter Weg“, die in allen Punkten mit der Arbeitspartei von Itzchak Rabin und Shimon Peres übereinstimmte – nur darin nicht, den Golan aufzugeben. Zu jener Zeit gewöhnte ich mir an, meine Beiträge in Foren über den Nahen Osten mit „Sh’lom im HaGolan“ zu unterschreiben. Frieden mit dem Golan, oder auch sinngemäß: Frieden für den Golan. Es erhob sich lautes Geschrei; Leute beschwerten sich, wie man ihnen zumuten könne, mit so einem Hardliner überhaupt zu diskutieren. Aber die Fragen sind bis heute unbeantwortet: Wie stellen wir uns den Frieden praktisch vor? Wem gehört das Land?

Die Straße führt durch den Moshav Neve Ativ, am Ein- und Ausgang gesichert durch schwere Eisentore. Den Hermon habe ich jetzt im Rücken. Die Festung Nimrod liegt vor mir, dahinter das Hula-Tal. Man begreift mit den Sinnen, daß es nahe lag, dort eine Festung zu bauen – und warum es für die syrische Artillerie so leicht war, von hier aus die israelischen Dörfer und Felder im Tal zu beschießen.
Ich will nicht mit dem Auto bis zum Burghügel fahren, sondern parke am Nebi Hazori, dem Grab eines drusischen Scheichs. Ich weiß nicht, was sich dort verbirgt, man könnte es besichtigen, aber heute scheint ein besonderer Feiertag zu sein. Viele Menschen strömen hinein, die Männer in traditioneller Festtagskleidung, Kinder spielen im Garten. Ich wende mich nach rechts, wie mein treuer Reisebegleiter, das Büchlein „Hiking in Israel“ mir empfiehlt. Bald habe ich die Straße und die Menschen hinter mir gelassen und tauche ein in die typische Natur des Golan: ein tief eingeschnittenes Tal, Nachal Hazori. An den Hängen stehen einzelne niedrige Bäume. Beherrscht wird das Bild vom golden leuchtenden hohen Gras, schon vertrocknet zu dieser Jahreszeit. Aber dazwischen eine Explosion von Blumen und Farben. Die Talkerbe, durch die in regenreichen Wintern das Wasser hinunterschießt und große Felsbrocken rund schleift, ist überwölbt von einem gewaltigen Oleander-Urwald. Jetzt ist die Blütezeit, ein Meer von zartrosa Blüten umgibt mich. Der märchenhafte Duft aber stammt nicht vom Oleander, sondern von den Feigenbäumen. Nach diesem Geruch hatte ich mich gesehnt!
Eidechsen huschen über die Steine, Vögel zwitschern; die erste halbe Stunde bin ich allein unterwegs. Dann überhole ich einige Familien. Die Väter haben ihre Jüngsten in Rückentragen; die anderen Kinder reicht man sich an schwierigen Stellen zu. Denn das Klettern über die großen Steine ist nicht immer einfach, verlangt Aufmerksamkeit. Nachdem ich eine Weile abgestiegen bin, bietet sich in einer Kurve der Blick auf die Festung Nimrod. O je, so weit oben. Der Aufstieg führt durch einen lichten Olivenhain. Die Sonne hat mittlerweile Kraft gewonnen; einigermaßen verschwitzt komme ich am Eingang der Festung an.
In den vergangenen Jahren haben die Archäologen hier viel ausgegraben und vor allem hervorragend rekonstruiert. Die Bilder auf Postkarten und in Reiseführern sind hoffnungslos veraltet und geben die Wirklichkeit nicht annähernd wieder. Dabei hat sich auch herausgestellt, daß die Festung nicht, wie bislang angenommen, von den Kreuzfahrern erbaut wurde, sondern 1227 von den Ayyubiden, 40 Jahre nachdem Saladin die Kreuzritter an den Hörnern von Hittin vernichtend schlug.

Die Besichtigung beginnt am westlichen Ende des Burgberges; hier ist die Freile-gung am weitesten fortgeschritten. Herrliche Säle, kunstvolle Fenstereinfassungen, Säulen und Gewölbe, steile Felstreppen, geheime Gänge und Maueröffnungen, Terrassen und Aussichtsplattformen wechseln einander ab. Romantisch ist der Einstieg in die gemauerte Zisterne, deren halbes Dach eingestürzt ist.

Der Donjon, die innere Burg, liegt erhöht am östlichen Rand, der Weg dorthin führt unter schattenspendenden Bäumen entlang. Hier oben hat man eine phantastische Fernsicht. Archäologisch ist dieser Teil noch weitgehend unerschlossen; wir dürfen uns auf die Ergebnisse der kommenden Jahre freuen.
Ich könnte nun auf dem gleichen Weg zurückkehren, entscheide mich aber für den Serpentinenpfad am Osthang. Wiederum führt mich ein versteckter Gang zu einer Nebenpforte, diese ist nur knapp einen Meter hoch. Auf allen vieren krieche ich hindurch.
Zurück an der Straße, ignoriere ich den Rat meines Reiseführers („von hier können Sie in zwanzig Minuten bergauf joggen“) und strecke den Daumen raus. Zwei bildhübsche junge Frauen halten kichernd an. Sie verstehen kein Wort Englisch, ich darf aber mitfahren und bedeute Hebräisch radebrechend, ich würde ihnen zeigen, wo ich aussteigen will.
Es ist inzwischen früher Nachmittag und richtig heiß; ich könnte ein Bad gebrauchen. Das ist nicht unmöglich auf dem Golan, doch es kostet ein wenig Mühe. Die Sa’ar-Wasserfälle direkt an der Straße sind Ende Mai fast ausgetrocknet, aber es gibt andere Täler, die immer Wasser führen. Ich steuere also zurück aufs Hochplateau und zum Nachal Gilbon.
Plötzlich taucht eine riesige Staubwolke vor mir auf, begleitet von ohrenzerreißendem Lärm. Syrische Panzer! – Ach nein, nur eine Horde Jugendlicher auf ihren Quads.
Der Weg zu den Wasserfällen Devora und Gilbon beginnt an der zerstörten Siedlung Aweinat el Shamaliya. Der Wanderführer mahnt, ich solle auf den markierten Pfaden bleiben, die Hänge rechts und links sind noch immer nicht vollständig von syrischen Minen geräumt. Wie überhaupt das Schild „Danger! Mines!“ allgegenwärtig ist auf dem Golan.
Schon auf dem vollgestellten Parkplatz konnte ich ahnen, daß ich hier nicht allein sein würde. Den schmalen Felsvorsprung unter dem Devora-Fall belagert eine Gruppe junger Leute mit wohlgeformten, athletischen Körpern. Es wäre lächerlich, sich dazwischenzudrängen. Ich gehe weiter, treffe auf eine arabische Großfamilie, selbst die Oma am Stock klettert über steile Felsen. Hochachtung! Im Schatten der Oleander schließe ich mich einem Pärchen an, das federnden Schrittes an Familien und Wandergruppen vorbeizieht. Dann stehen wir am Rand des Gilbon-Falles, der von beeindruckender Höhe ist. Nun also steil hinunter, da unten wartet das erfrischende Naß. Ich beeile mich, will vor einer Gruppe lautstarker arabischer Jugendlicher dort sein. Einer pöbelt mich an („Geh doch nach Hause!“); ein anderer fragt mitfühlend, ob es mir nicht zu heiß sei. Sehe ich so aus?

Der Weg zum Bassin kreuzt einige Male den Bachlauf. Steine und Äste liegen darin, auf die man treten kann; doch am sichersten kommt man hinüber, wenn man die Hosen aufkrempelt und hindurchwatet. Ich bin froh, daß ich meine Trekking-Sandalen anhabe.
Am Wasserbecken, vielleicht zwanzig Meter im Durchmesser, herrscht Gedränge. Ich suche jemanden, dem ich meinen Rucksack mit Kamera, Kreditkarte und Autoschlüsseln anvertrauen kann. Eine Familie neben mir unterhält sich auf Russisch. Ich spreche sie an, sie stimmen freundlich zu. Jetzt noch über ein paar große Steine balancieren, endlich falle ich ins angenehm kühle Wasser. Hier gibt es sogar Fische! Wenn man unter der Wasser-wand hindurchtaucht, kann man sich in einer Nische auf die Basaltfelsen setzen. Die ganze Welt verschwimmt hinter diesem beweglichen Vorhang.
Ich fühle mich wunderbar erfrischt; aber als ich auf dem Rückweg aus dem Schatten der Oleander trete, trifft mich unvermittelt die Nachmittagsglut. Der Aufstieg aus dem Tal ist kurz und steil, dann geht es noch einige Kilometer auf einer Schotterpiste zurück zum Parkplatz.
Die Kleinkinder in den Rückentragen der Väter sind eingeschlafen, ihre glühenden Gesichter werden mit Wasser gekühlt. Die arabischen Jugendlichen klettern auf einen Pick-up und werfen ihre leeren Plastikflaschen in die Landschaft. Eine junge Frau winkt mir aus dem Autofenster – ach so, das Pärchen von vorhin. Mein ausgedörrtes Hirn phantasiert eisgekühlte Getränke und ein üppiges Abendessen.
Von der Klimaanlage verwöhnt, gleite ich gemächlich über die sanften Hügel hinunter zum Kinnereth. Dabei denke ich über die alte Frage nach, wem eigentlich der Golan gehört. Juristische Argumente interessieren mich nicht. Die Grenzen im Nahen Osten haben die Siegermächte des Ersten Weltkriegs völlig willkürlich aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches geschnitten. Warum bitte sollten die Grenzverläufe von Anfang Juni 1967 die einzig legalen sein, die von 1917, 1920, 1948 und 1973 aber nicht? Das ist doch Humbug.
Seit langem vertrete ich die Ansicht, Frieden sei nur möglich, wenn alle Seiten den Status Quo hinnehmen, die aktuellen Grenzen in ihrer historisch gewachsenen Willkür. In Nablus und Hebron spricht die demographische Wirklichkeit nun einmal – trotz der Patriarchengräber! – für eine palästinensische Souveränität, in Jerusalem und Jaffa für eine israelische. Und so wie das Haus meiner Urgroßeltern in Bromberg/Bydgoszcz für mich futsch ist, so ist der Golan für Syrien perdu. Sag beim Abschied leise Servus.
Am Ende dieses Tages kommt mir aber noch ein anderer Gedanke. Ich erinnere mich an die Verse eines deutschen Nachkriegsdichters:
Und weil wir dies Land verbessern,
lieben und beschirmen wir’s.
Und das liebste mag’s uns scheinen –
so wie andern Völkern ihrs.
Der Golan gehört den drusischen Bauern in Mas’ada und Majdal Shams. Er gehört den jüdischen Bauern auf den Traktoren und in den Weinbergen. Er gehört dem Hüttenwirt auf dem Hermon und den Neueinwanderern in Katzrin, den Kibbuzniks und den Archäologen, den Naturschützern und den Wanderern. Der Golan gehört den Geiern und Stachelschweinen, dem roten Mohn und den wilden Alpenveilchen.
Der Golan gehört denen, die ihn mit Respekt behandeln, die ihn wirklich lieben. Darum bitte ich um
Frieden für den Golan
Literatur / Links:
http://www.SeaofGalileeGuestHouse.com
http://www.parks.org.il/BuildaGate5/general2/company_search_tree.php?mc=378~All
Hiking in Israel, Toby Press 2008
Guide to the Golan Heights, by Aviva Bar-Am and Yisrael Shalem, Safed Regional College
Avigdor Kahalani, A warrior‘s way, Steimatzky, 1999

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